Wie weit reichen die Beratungspflichten eines Sozialversicherungsträgers? Diese Frage ist immer wieder Gegenstand von sozialgerichtlichen Verfahren. Aber auch die ordentliche Gerichtsbarkeit hat manchmal die Gelegenheit, sich dazu zu äußern, wie heute der Bundesgerichtshof (BGH).
Im Rahmen einer Schadensersatzklage hat der BGH einer Klage eines Schwerbehinderten stattgegeben, der im Jahr 2004 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII beantragte und bewilligt bekommen hat. Zuvor hatte er in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet hat und einen Rentenanspruch erworben. Der Sozialleistungsträger wies ihn aber nicht darauf hin, dass er möglicherweise auch einen Rentenanspruch habe. In der Folge stellte der Kläger auch keinen Rentenantrag. Erst im Jahr 2011 erfuhr er durch den Wechsel seiner Sachbearbeiterin, dass er sich bei dem Rentenversicherungsträger über die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente erkundigen solle. Hierdurch veranlasste der Kläger eine Beratung und einen entsprechenden Antrag auf Erwerbsminderungsrente, die ihm dann auch ab 2011 zugesprochen wurde. Gleichzeitig stellte der Rentenversicherungsträger fest, dass er bereits einen Anspruch ab 2004 gehabt hätte.
Eintritt eines Schadens, weil keine Beratung erfolgte
Der Kläger verlangte daher für den Zeitraum November 2004 bis Juli 2011 Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen der gewährten Grundsicherung und der ihm in diesem Zeitraum bei rechtzeitiger Antragstellung zustehenden Rente wegen voller Erwerbsminderung von dem Grundsicherungsträger. Der Schaden wäre nicht eingetreten, wenn er von Anfang an auf die Möglichkeit des Bestehens eines Rentenanspruchs hingewiesen worden wäre.
Immer komplizierter werdendes soziales Leistungssystem zieht verstärkte Beratungspflicht nach sich
Dies sah der Bundesgerichtshof auch so. Ein Auszug aus der Pressemitteilung lautet:
„Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat.“
Interessant ist hier sowohl der Hinweis, dass von Amts wegen auf Nachteile hingewiesen werden soll, die sich mit dem Anliegen des Antragsstellers verbinden, als auch der Hinweis, dass die Beratungspflicht nicht erst durch gezielte Fragen ausgelöst wird. Damit erkennt der BGH auch das tatsächliche Problem beim Umgang von Bürgern mit (Sozialleistungs-) Behörden an, nämlich das oft vorhandene Wissensgefälle. Oft berufen sich Sozialleistungsträger darauf, dass sie von Antragsstellern nicht gefragt wurden, aber wie sollen kompetente Fragen formuliert werden, wenn man sich nicht mit dem Sozialleistungssystem auskennt?
Spannend wird nun sein, ob und welche Rückschlüsse die Sozialleistungsträger aus dieser Entscheidung ziehen werden. Die Forderung nach besserer Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollte hier ganz oben stehen, aber auch die gesamten Abläufe in den Sozialleistungsträger müssen einmal kritisch hinterfragt werden.
Dokumentation – ein immer wieder heißer Tipp für Antragsstellerinnen und Antragsteller!
Um notfalls im Wege des Schadensersatzes gegen einen Sozialleistungsträger vorgehen zu können, bleibt für Antragsstellerinnen und Antragssteller wie immer wichtig: den Kontakt mit Sozialleistungsträger nachweisen zu können! Wer Unterlagen einreicht, sollte sich die Abgabe bestätigen lassen, einen Zeugen mitnehmen, ein Einschreiben schicken etc. Wer etwas überprüfen lassen möchte, sollte zudem einen Einzeiler mit dem Überprüfungswunsch beifügen, gerne auch mit dem Satz, dass man selbst davon ausgeht, dass nun alles vollständig ist. Oder mit der Frage, ob es noch andere Möglichkeiten gibt.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, Volltext noch nicht veröffentlicht